Liebe Gemeinde,
anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 wurde unser sechsjähriger Predigtplan überarbeitet. Wir sind jetzt im 6. Jahr. So kommt es, dass uns heute ein Text vorgeschlagen wird, über den ich noch nie gepredigt habe. Es handelt sich um drei Ermahnungen, gerichtet an die Ältesten und er beginnt: „Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll.“ - Petrus und die anderen Jünger konnten das sagen, aber ich bin seit 4 Jahren im Ruhestand, auch keine Mitälteste und habe keine Verantwortung für eine Gemeinde mehr. Die Älteste an Jahren bin ich heute unter Euch hier auch nicht, sodass ich aus diesen Altersgründen wegen meiner Lebenserfahrung so sprechen könnte.
Zuerst habe ich gedacht: Ihr als Gemeinde seid doch die falsche Adresse für diese Ermahnungen, die Gemeinde- und Kirchenleitende betreffen, die Pastoren und Mitglieder des Gemeindekirchenrates bis hin zum Bischof und unseren Synoden. Ist jemand unter uns aus dem Gemeindekirchenrat? - Ja, einige!
Doch zumeist sind wir heute in der Position von Beobachtern oder auch der Schafe, um deren Versorgung und Schutz es geht.
Nun war der Vergleich der Obrigkeit, sei sie staatliche oder religiös, mit Hirten und uns anderen mit Schafen schon zu Jesu Zeiten sehr alt. So hat der Prophet Ezechiel im 6. Jahrhundert vor Christus mit sehr scharfen Worten in einer langen Rede Priester und Propheten ermahnt, für ihre Herde zu sorgen, statt sie für sich selbst auszubeuten. Und angesichts der Zustände werde Gott aus dem Geschlecht des Davids einen neuen Herrscher erstehen lassen, der das Volk mit Recht und Gerechtigkeit regiere, ja, dass er sein Volk selbst leiten wird..1 Auch vom Propheten Jeremia ist eine lange harte Rede gegen die schlechten Hirten,/ Propheten und Priester überliefert und die Verheißung, dass Gott einen guten Hirten aus dem Geschlecht Davids schicken wird.2
Diese Verheißungen hat die junge Christenheit in Jesus erfüllt gesehen und so reden wir bis heute von Jesus als unserem guten Hirten. Auch war die Darstellung Jesu als eines Hirten, der das wiedergefundene Schaf auf der Schulter trägt, die älteste Darstellung Jesu in Menschengestalt, während man in früherer Zeit nur Symbole für ihn verwendete.
Nun sind 2000 Jahre fast vergangen und noch immer sind die drei Ermahnungen an die Leitenden in unseren Kirchen wichtig, die hier im 1. Petrusbrief genannt werden, denn noch immer sind die Versuchungen da, das Gegenteil zu praktizieren.
Die erste Ermahnung lautet: „Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist und achtet auf sie nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie Gott es gefällt.“
Nun könnten wir sagen: Wieso? Wer wird dazu gezwungen? Man muss sich doch selber dafür bewerben, sowohl um eine Pfarrstelle wie um ein Ältestenamt, um im Gemeindekirchenrat mitzuentscheiden.
Ich denke, bei letzterem ist die Frage oft: Wenn ich es nicht weiter mache wie bisher, wer macht es dann? - Uns liegt die Arbeit am Herzen. Es soll weitergehen, aber wo sind die Jüngeren, die es übernehmen könnten? Und wir werden jedes Jahr älter und die Kräfte lassen nach.
Ja, und die Pastoren und Pastorinnen? Sie haben mindestens 7 Jahre Studium und Ausbildung hinter sich und danach muss man ja irgendetwas machen. Nicht wenige würden dann gern an der Uni bleiben und noch weiter forschen. Aber die Plätze sind begrenzt und so bleibt oft nur der Weg in die Praxis. Denn man muss ja dann auch Geld verdienen und an seine Familie denken. Man kann das freudig tun, es kann aber auch mit einem gewissen Druck verbunden sein. Und auch wenn man viele Jahre gearbeitet hat – auch mit Freude, kann die Arbeit zur Last werden, aus gesundheitlichen Gründen oder wegen Eintönigkeit: jedes Jahr dasselbe – oder wegen Konflikten. Aber bis zum Ruhestand sind es noch ein paar Jahre. Man muss noch durchhalten. Auch das ist ein Zwang. Neues anzufangen, sich um andere Arbeit zu bewerben, lohnt sich nicht mehr, meint man.
Die zweite Ermahnung lautet: Weidet die Herde Gottes... „nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern aus Herzensgrund“.
Nun, wir Pastoren sind, wenn wir es nach Jahren geschafft haben, ordiniert zu werden und eine Stelle zu haben, beamtenähnlich angestellt und haben damit eine sehr sichere Arbeit und im Vergleich mit vielen anderen sehr gute Arbeitsbedingungen. Auch im Ruhestand sind wir sehr gut abgesichert. Wir werden wie Beamte des Staates „alimentiert“. Das heißt es wird für uns und unsere Familien gesorgt, so dass wir ein gutes Auskommen haben und so nicht in die Versuchung kommen, bestechlich zu werden.
Das stammt noch aus Kaiserszeiten, als Pastoren Staatsbeamte waren und unsere evangelische Kirche dem preußischen König unterstand. In davon „freien“ Gemeinden finanziert in der Regel jede Gemeinde selbst ihren Pastor/ ihre Pastorin, wenn sich Gemeinden nicht untereinander helfen. Weltweit gesehen ist „schändliche Gewinnsucht“ aber durchaus noch ein Problem unter uns Christen und in Kirchen.
Aber bei Gewinn muss man ja nicht nur an Geld denken. Der Wunsch anerkannt zu werden, gelobt zu werden, aufzusteigen im Beruf, ist auch solche Versuchung, bei der es um das Eigene geht und nicht um das Wohl der Gemeinschaft, der Gemeinde. Um aufzusteigen oder eine bestimmte Arbeit oder einen Posten zu bekommen, ist man in Versuchung, zu schweigen, wo Kritik nötig wäre, um nicht negativ aufzufallen. Man kehrt womöglich Probleme unter den Teppich, verschießt die Augen davor, will von Konflikten nichts hören, weil dies den eigenen Weg behindern würde.
Wenn wir an Jesus als unser Vorbild denken: Er war nicht nur der segnende, heilende, freundliche, wie er oft auf Bildern dargestellt wird, sondern konnte sehr hart reden, vor allem gegenüber den Priestern, Pharisäern und Schriftgelehrten. Und das ist uns in den Evangelien überliefert, nicht damit wir wissen, was das für schlimme Leute damals waren, sondern damit wir Schriftgelehrten und Priester heute uns angesprochen und gewarnt fühlen, wir Theologen und Pfarrer.
Und so gilt uns auch die dritte Ermahnung: die Gemeinde zu leiten „nicht als solche, die über sie herrschen, sondern als Vorbilder.“ Ja, das sollen wir sein, wir als Älteste in der Gemeinde vom Alter oder vom Amt her und wir Pastoren, Superintendenten, Bischöfe... Nun angesichts dessen, dass Pastoren und auch oft die Ältesten im Gemeindekirchenrat für immer mehr Orte und Gemeinden in den letzten Jahrzehnten zuständig geworden sind, kennt man sich weniger gut als früher. Ich bin in einem Pfarrhaus aufgewachsen, mitten im Dorf gelegen. Die Christenlehre fand bei uns im Wohnzimmer statt. Unser Haus war offen für jeden. Da wusste auch jeder, was los war. Das ist heute oft nicht mehr so.
Dafür beschäftigen uns seit nun rund 12 Jahren immer wieder Skandalnachrichten wie auch in der letzten Woche. Sie betreffen zwar die katholische Kirche, aber es wird oft nur von Kirche in den Nachrichten gesprochen und viele Menschen unterscheiden nicht zwischen uns. Es heißt jedenfalls, dass bei jedem Skandal mehr Menschen aus der evangelischen Kirche austreten als aus der katholischen Kirche.
Dazu kommen die politischen Meinungsäußerungen von kirchenleitenden Persönlichkeiten, sicher aus dem persönlichen Gefühl heraus, Verantwortung zu haben und die Herde Gottes auch in dieser Hinsicht leiten zu müssen. Das kann man bei uns vielleicht noch verkraften, es sogar gut finden, dass „die Kirche“ ihre Stimme erhebt, wenn man dieselbe Meinung hat. Aber das kann andere auch mit Entsetzen erfüllen, wenn sie andere Erfahrungen aus ihrem beruflichen und familiären Alltag haben.
Ich bin im Internet gerade bei der Suche nach russischen Predigten auf ein Interview gestoßen, dass der Metropolit Tychon der Komosmolskaja Prawda jetzt am 14. April gegeben hat3, das erschreckend für mich ist, auch angesichts des Themas des heutigen Sonntags. Hinterher las ich, dass er als ein geistlicher Berater Putins gilt und ihn auf zahlreichen In- und Auslandsreisen begleitet habe.4
Liebe Gemeinde, ich habe mich rund 10 Jahre meines Lebens1980 bis 1990 mit den marxistischen Vorwürfen gegen uns Christen auseinandergesetzt und die Predigten der Berliner Hof- und Domprediger im Zeitraum von der Reformation bis zur Revolution 1848/49 daraufhin untersucht.5 Ich habe festgestellt, dass diese Vorwürfe nicht zutreffen, dass diese Hofprediger nicht Propagandaorgan der herrschenden Klasse waren. Und nun lese ich also von einem leitenden Geistlichen der Russisch Orthodoxen Kirche so eine Analyse der gegenwärtigen politischen Weltsituation und der Rolle Russlands, dass mir dabei nur schlecht wird.
Schlecht wird uns auch und jedem, der es liest, was den Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche nicht nur hier, sondern weltweit betrifft. Können wir uns als evangelische Christen beruhigt zurücklehnen und meinen: Na, wir haben es ja schon immer gewusst: wir sind doch die besten und wahren Christen? Ein Blick in die Vergangenheit, in die Nazizeit kann uns da eines anderen belehren. Sicher es gab einen Bonhoeffer und die Bekennende Kirche, aber sehr viele auch von uns Evangelischen haben schwere Schuld auf sich geladen. Nur hinterher wollte es keiner mehr gewesen sein und wer es war, schwieg lieber und ging möglichst woanders hin, wo man ihn nicht kannte. Da gab es die Stunde Null und nun sollte alles besser werden.
Liebe Gemeinde! Jesus hat gesagt: „Ich bin der gute Hirte.“ Das hieß, der den die Propheten verheißen hatten. „Ich bin niemand, der für Geld arbeitet, bin kein Angestellter6, der die Flucht ergreift, wenn es gefährlich wird, weil der Wolf kommt. Ich lasse mein Leben für die Schafe.“ - Ja, das hat er getan. Er ist unser Oberhirte und wenn unsere „Unterhirten“ versagen, nur gezwungenermaßen noch arbeiten, weil sie die Zeit bis zur Rente noch rumkriegen müssen oder aus Streben nach Ruhm und Anerkennung oder materiellen Wohlstand und eben nicht als Vorbilder im Sinne Jesu,so lasst uns auf ihn blicken und von ihm Hilfe erwarten.
Er ist nicht nur der segnende Heiland, er ist auch unser Richter spätestens im Endgericht. Er ist geduldig. Er warnte einst einen Petrus, einen Judas vor dem, wozu sie fähig sein würden, aber er verstößt sie nicht, wenn sie dann doch wieder zu ihm kommen, sondern fragte den Petrus: „Hast du mich lieb?“ und vertraute ihm dann seine Herde / seine Gemeinde an.7 Es geht um unser Herz. Ist es mit sich selbst beschäftigt, was die anderen über uns sagen oder reden werden oder ist er, Jesus, in unserem Herzen und mit ihm alle Schwestern und Brüder der Gemeinde, gesunde und kranke, nette, freundliche im Umgang und komplizierte, alte und junge...
Wie sieht es in meinem Herzen aus? Das ist für jeden von uns die entscheidende Frage, nicht, was wir über bestimmte Leute denken und urteilen. Gott liebt jeden von uns, und lässt uns die Freiheit, eigene Wege zu gehen. Er sucht uns, geht uns nach, wenn wir uns verirrt haben und warnt uns vor Gefahren. Er sorgt dafür, dass wir für Leib und Seele Nahrung haben. Gefahren lauern auf uns nicht nur durch Raubtiere draußen, sondern auch in der eigenen Stärke /Überheblichkeit gegenüber den Schwachen und Kleinen, sowohl der Widder gegenüber den Schafen, wie der Schafe untereinander und im Blick auf die Natur, wenn sie in klarem Wasser und auf der Weide so herumtrampeln, dass sie nicht mehr für andere brauchbar sind. Darauf hat schon der Prophet Ezechiel8 hingewiesen und das gilt bis heute. Der Gefahren werden wir aber nur Herr, wenn es Menschen unter uns gibt, die den Mut haben, darauf hinzuweisen, ja mit ihnen zu drohen, und uns zu ermahnen, im Sinne Gottes / Jesu zu leben und miteinander umzugehen. Der Herr stärke uns durch seinen Geist und sein Wort dazu. Amen.
Fürbittengebet
Himmlischer Vater, wir bitten Dich für alle, die Gemeinden und Kirchen zu leiten haben: für die Mitglieder der Gemeindekirchenräte und Synoden, für Pfarrer und Superintendenten, Bischöfe bei uns und in aller Welt, für Patriarchen und Päpste, den Ökumenischen Rat der Kirchen und alle internationalen Vereinigungen in Deinem Namen – um Weisheit, um Demut statt Hochmut, um den Mut zur Wahrheit und die Lebe, Deine Liebe, die uns verwandelt .
Herr wir bitten Dich heute vor allem für unsere Glaubensgeschwister in den Kriegs- und Konfliktgebieten der Welt, in der Ukraine und Russland, in Israel und Palästina, in Armenien, im Sudan und so vielen anderen Regionen, bewahre sie vor Hass, vor Verzweiflung, vor dem Glauben der Propaganda und Hetze. Bewahre auch uns davor!
Wir rufen zu Dir: Herr, erbarme Dich!
Jesus, Du mutest uns Feindesliebe zu, gut zu unseren Feinden zu sein und ihnen zu helfen, wenn sie in Not sind. Das fällt uns schwer. Wir sollen in dem anderen immer den Menschen sehen, der von Dir genauso geliebt ist, wie wir selbst, auch wenn er auf Abwege geraten ist. Hilf uns in jedem Menschen, wer er oder sie auch sei, den von Dir geliebten Menschen zu sehen. Bewahre uns vor Vorurteilen gegenüber anderen Völkern und Kulturen, Konfessionen. Sprich Du zu uns und rufe uns zurück, wo wir auf Irrwegen sind.
Wir rufen zu Dir: Herr, erbarme Dich!
Herr, immer wieder suchen wir Menschen Sicherheit durch den Besitz von Geld und materiellen Gütern, auch unsere Gemeinden und Kirchen. Herr, lass uns doch allein auf Dich vertrauen und auf die Wahrheit Deines Wortes. In Deinem Wort der Heiligen Schrift wird so klar alles angesprochen, was wir gerne verschweigen! Herr, schenke uns den Mut und die Gelegenheit, dies zu bezeugen, auch vor denen, die Dich nicht kennen.
Wir rufen zu Dir: Herr, erbarme Dich!
Jesus, unser Herr, wo 2 oder 3 in Deinem Namen versammelt sind, da bist Du mitten unter uns. Das hast Du uns versprochen. Herr lass uns das spüren, dass wir nicht allein sind, wenn wir wenige sind.
Vor Dir denken wir an alle, die heute nicht hier sein können, aber gern hier wären, an unsere Kranken. Herr stärke sie und ihre Angehörigen, nimm ihnen und uns die Sorgen, die uns quälen.
Wir rufen gemeinsam zu Dir: Vater unser...
1Ezechiel 34
2Jeremia 23
3 https://pravpskov.ru/153122.html – Zugriff am 24.4.2023
4https://de.wikipedia.org/wiki/Tichon_(Bischof,_1958) - Zugriff am 24.4.2023
5https://www.katharina-dang.de/index.php/dissertationen
6Hiermit übersetze ich das altertümliche Wort „Mietling, das auch die Luther-Übersetzung von 2017 noch in Johannes 10 verwendet, der Evangeliumslesung des Sonntags (Joh. 10,11-16.27-30)
7Johannes 21,15ff
8Ezechiel 34,17ff
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Predigt am 16. April 2023 in der Dorfkirche Marzahn über 1. Mose 32,23-31
Predigt in der Gemeinde Berlin-Marzahn/Nord am 26. März 2023 über den Hebräerbrief 5, 7-10:
Predigt im Gesprächsgottesdienst in der Emmaus-Kirche1 Zehlendorf am 19. März 2023 über Lukas 24,17-27
Predigt über den Psalm 46 und das Lied Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott“
am 30. Oktober 2022 im Gottesdienst zum Reformationsgedenken in Ahrensfelde und Eiche bei Berlin
Predigt am 19. September in der Dorfkirche Ahrensfelde über Jesaja 12
Predigt am 29. Mai 2022 in der Dorfkirche Ahrensfelde über Römer 8,26-30
Predigt am 1. Mai 2022 in der Kirche zu Blumberg über Johannes 21,15-19
Predigt am 19. September 2021 in der Dorfkirche Ahrensfelde über 2. Timotheus 1,10b:
Predigt am 11. Juli 2021 in der Dorfkirche Ahrensfelde über Matthäus 28,16-20
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Die meisten der hier auf dieser Webseite veröffentlichten Predigten habei ich in der Kirchengemeinde Berlin-Marzahn/Nord gehalten. Darum hier auch noch meine letzte Predigt dort:
Predigt im Silvestergottesdienst 2018 zum Abschied von der Gemeinde Marzahn/Nord,
- da frei von mir gehalten, nun nachträglich noch mal so aufgeschrieben, wie ich es habe sagen wollen -
über Johannes 8,31-36:
Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“
Da antworteten sie ihm: „Wir sind Abrahams Nachkommen und sind niemals jemandes Knecht gewesen. Wie sprichst du dann: Ihr sollt frei werden?“
Jesus antwortete ihnen und sprach: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Der Knecht aber bleibt nicht ewig im Haus; der Sohn bleibt ewig. Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.“
Liebe Gemeinde,
schon dreimal hatte ich über diese Sätze hier Silvester zu predigen, über diese Worte, die so gar nicht zu einer Silvesterfeier zu passen scheinen. Heute am Ende meines Dienstes möchte ich darauf zurückblicken.
1994 war es das erste Mal. Ich habe über Freiheit nachgedacht. Unsere Kinder waren noch in der Grundschule und ich hatte die Erfahrung, wie es ist, Rechtschreibung zu üben. Es gibt Regeln, die man sich einprägen muss, man hat nicht die Freiheit, das einfach anders zu machen.Ein falsch geschriebenes Wort wird immer und immer wiederholt, bis es sich eingeprägt hat. So hieß es: „Übung macht den Meister.“ Dann aber passiert es beim Schreiben, dass man etwas, was bisher immer richtig war, auf einmal verkehrt geschrieben wird. Das sah ich als Bild, wie es uns im neuen Jahr möglicherweise ergehen wird: Wir nehmen uns vor, es nun besser und richtig zu machen, aber wir werden neue Fehler machen, die uns bisher nicht passiert sind. Regeln sind wichtig für das Miteinander, wenn wir gut miteinander auskommen wollen. Jesus ist ein geduldiger Lehrer, der uns, seinen Schülern, zutraut, sie zu lernen und dadurch frei zu sein und Mut zu haben, für die neue Übungsrunde, die das neue Jahr für uns bedeutet.
Unsere für die Predigt vorgeschlagenen Texte wiederholen sich alle 6 Jahre. Im Jahr 2000 war ich aber nicht dran, den Gottesdienst zu halten, wohl aber 1999. An diesen Abend erinnere ich mich noch sehr gut. Von jungen Männern, die wir eine Zeit lang hier aufgenommen hatten, hatte ich schon ein paar Jahre vorher gehört, dass an diesem Abend in Rio de Janeiro die größte Silvesterparty der Welt stattfinden würde, um das Jahr 2000 zu begrüßen. Die katholische Kirche hatte ein Heiliges Jahr ausgerufen. So war ich auf die Idee gekommen, das Jahr hier in Marzahn in ökumenischer Gemeinschaft zu begehen. Wir haben das Fest Mariä Empfängnis gemeinsam in großer Runde in der katholischen Kirche im Gemeindesaal gefeiert. Beim gemeinsamen Johannisfeuer, der Feier des 2000. Geburtstages Johannes des Täufers in der Maratstraße, waren wir dann schon weniger. Für die Adventszeit hatten wir uns vorgenommen, wie in der Anfangszeit unserer Gemeinden uns gegenseitig in die Familien einzuladen. Ganze zwei Einladungen kamen zustande, die dann auch noch kurz vorher abgesagt wurden. Silvester wollten die meisten zur großen Feier am Brandenburger Tor. Mein Anliegen war, dass unser Gemeindezentrum an diesem Abend offen sei und Licht aus den Fenstern leuchte. Wir luden ein zu gemeinsamen Gebet und Gesang und waren ganze zwei hier: ich und ein Alkoholkranker, der an diesem Abend aber nüchtern war und die Orgel spielte, während ich hier vorn Kerzen anzündete und gebetet habe. Draußen war so ein Nebel, dass man die Hand kaum vor Augen sehen konnte. So konnte auch keiner, der eventuell doch hier vorbei gekommen ist, sehen, dass hier drinnen eine Andacht stattfand.
Nun, nach 18 Jahren naht sich bald das Jahr, in dem wir 2000 Jahre Gedenken an Jesu letztes Abendmahl , seine Kreuzigung, seine Auferstehung, Himmelfahrt und die Gründung der ersten Gemeinde zu Pfingsten gedenken können. Ob es im Jahr 2030, wie in unserem Kalender angenommen, oder im Jahr 2033 zu feiern ist, darüber diskutieren noch die Gelehrten. Ich denke, wir können angesichts der Größe dieses Ereignisses auch vier Jahre lang in ökumenischer Gemeinschaft feiern.
2006, als ich wieder über diese Worte Jesu im Joahnnesevangelium zu predigen hatte, begann ich mit dem Rückblick auf Heiligabend. Da waren so viele hier und mancher sagte: „Na, dann bis zum nächsten Jahr wieder am Heiligen Abend.“ Jesus aber geht es um das Bleiben. Er will uns nicht nur äußere, sondern auch innere Freiheit, ermöglichen, das heißt auch die Freiheit von Zukunftsangst. 2007 stand die Mehrwertsteuererhöhung auf 19 Prozent an. Das war mit Ängsten verbunden, ob dann die Preise auch entsprechend steigen würden und man demnächst noch das Nötige bezahlen könne.
Im Jahr 2012 habe ich die Predigtgedanken von 1994 noch mal aufgenommen und über das Lernen nachgedacht. Jesus möchte, dass wir zu unseren Fehlern stehen: „Ja, ich habe etwas falsch gemacht und nur ich bin dafür verantwortlich. Niemand anderes.“ Er möchte, dass wir die Wahrheit anerkennen und uns die Last der Schuld abnehmen. Er sagt: „Sonst bleibst du der Sünde Knecht.“ Damit möchte er Lust machen, nicht mehr Knecht zu sein, sondern Sohn. „Denn ein Sohn bleibt im Haus des Vaters.“
Und nun 2018? Im Sommer anlässlich der Zeitreise habe ich mit Fritz Müller über die Sünde und die Bedeutung des Todes Jesu disputiert. Er wollte heute eigentlich hier sein, aber ich sehe ihn jetzt nicht.1 Am nächsten Sonntag wird er im Gottesdienst anlässlich des Epiphaniasfestes sein und zu seiner Ausstellung hier etwas sagen, in der die drei Könige auf dem Weg zur Krippe im Mittelpunkt stehen.
Meine Überzeugung ist, dass es Regeln geben muss und sie klar und deutlich benannt werden müssen. Deshalb haben wir im Jahr 2010 auch unser Höflichkeitsprojekt begonnen, weil so einfache Regeln des Miteinanders, dass man sich grüßt, wenn man sich kennt und begegnet, nicht mehr selbstverständlich waren. Es sind Regeln, die wir als Kinder schon lernen und ohne die das Leben zur Hölle wird, wenn wir uns nicht danach richten. Doch wenn wir Erwachsenen es meinen, nicht mehr nötig zu haben, uns daran zu halten, woher sollen es die Kinder lernen?
Nun haben wir heute ja keinen Mangel an Regeln und Gesetzen. Kurz vor Weihnachten hatten wir hier im Haus auf einmal eine Hygieneinspektion und daraufhin ein Merkblatt von 3 Seiten eng beschrieben mit den Regeln bekommen, die es einzuhalten gilt. Es war so viel, dass ich bis heute nicht die Nerven hatte, mir das alles durchzulesen. Regeln sind wichtig, aber es kommt auch auf das Maß an. Zu viele kann man sich nicht merken. Da braucht man dann Spezialisten, die nichts anderes zu tun haben, als auf ihre Einhaltung zu achten. So gibt es ja auch für jeden Fachbereich Spezialisten. Dort, wo viele Menschen sind, ist die Einhaltung von Hygienevorschriften natürlich wichtig.
Gott aber hat uns nur wenige Grundregeln gegeben: die zehn Gebote. Jesus hat sie noch einmal zusammengefasst und auf drei reduziert: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und allen deinen Kräften und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Gott zu lieben, den Nächsten zu lieben - und uns selbst lieben dürfen wir auch.
Dazu hat er uns die Vergebung ans Herz gelegt. „Wenn jemand dagegen verstößt, reicht es, dass ich ihm 7 mal vergebe?“ hatte Petrus Jesus gefragt und die Antwort bekommen: Nicht 7 mal, sondern 7 x 70 mal.“ Das heißt doch: immer.
Wir hören gleich den Solo-Gesang „Drei Könige wandern aus Morgenland, o wandere mit. Der Stern des Friedens erhelle dein Ziel, wenn Du suchst den Herrn – und fehlen Weihrauch, Myrrhe und Gold, schenke dein Herz dem Knäblein hold.“ 2 -
Wandere mit, der Stern des Friedens, der Stern der Gnade erhelle dein Ziel! – Wo von Gnade die Rede ist, da werden Regeln bestätigt. „Gnade vor Recht ergehen lassen“ ist ein Ausspruch, der das beschreibt. Regeln und Recht benötigen den Hinweis auf das, was folgt, wenn sie nicht eingehalten werden: eine Strafe / ein Nachteil, der motiviert, die Regeln ernst zu nehmen.
Gnade ist ein Erlass dieser Strafe, dieses Nachteils, von Seiten des unabhängigen Richters. Vergeben aber kann nur der Geschädigte, einmal der, dem dadurch ein Nachteil, ein Schmerz, ein Unheil zugefügt wurde und einmal der, der das Gesetz beschlossen und die Regel formuliert hat und darin nicht ernst genommen wurde, dessen Ansehen und Autorität also Schaden genommen hat.
So bitten wir Gott um Vergebung, wenn wir nun miteinander das Heilige Abendmahl feiern und hören, dass er unsere Regelverstöße nicht auf die leichte Schulter nimmt, nach dem Prinzip: „Ist schon gut, war nicht so schlimm, ist schon vergessen.“, sondern dass er es sich sehr viel hat kosten lassen: sein eigenes Leben, ja das Leben seines einzigen geliebten Kindes – und das ist noch viel mehr als das eigene Leben! Es ist die höchst denkbare Steigerungsform! Mit dieser bekräftigt er die Gültigkeit der Regeln, gegen die wir verstoßen haben.
Eins solche Gnade zu empfangen, wird unser Herz berühren und es öffnen für Jesus, dieses Kind, das „Knäblein hold“, diesen Mann aus Nazareth. Lasst uns ihm folgen. Amen.
1 Er war aber anwesend.
2 "Drei Könige wandern ins Morgenland" von Peter Cornelius