20 Euro und der Talmud
(geschrieben im Oktober 2019)
Lieber R, lange habe ich von Dir nichts gehört. Bei Deinem letzten Besuch war ich Dir gegenüber sehr kurz angebunden und abweisend. Ich befürchtete von Deinen Problemen zu hören und hatte die Hoffnung aufgegeben, mitwirken zu können, dass sich daran etwas ändert. Doch fällst Du mir jetzt in einem anderen Zusammenhang wieder ein. Es war wohl im Mai 2008. Du wolltest mir als Dank für meine Hilfe mein Auto gründlich reinigen. Du hattest sicher gesehen, dass das sehr lange nicht passiert war. Am Freitag würden wir nach Groß Dölln zur Gemeindekirchenratsrüste fahren und ich würde mich bei meinen Mitfahrerinnen blamieren. So kam Dein Angebot gerade recht.
Zwei Stunden lang hast Du das Auto innen gewienert und ich habe die ganze Zeit überlegt, ob ich Dir für Deine Arbeit etwas geben sollte. Ich wusste doch, wie blank Du warst und jeden Euro gebrauchen konntest. Aber Du wolltest Dich doch bei mir bedanken. So überlegte ich hin und her, was gut und richtig wäre. Dann kamst Du zu mir, um mir das Auto zu zeigen. Es sah super aus – wie neu. Ich lobte Dein Werk. Du aber gucktest mich mit so einem verschmitzten Lächeln an, dass ich Dich darauf ansprach. Aber statt um Geld zu bitten, sagtest Du, Du hättest etwas gefunden.
„Was denn?“
„Geld!“
„Kannste behalten.“ sagte ich und dachte an einen oder zwei Euro, die herunter gekullert waren. Du aber blicktest mich immer noch so schelmisch an und zeigtest mir dann einen 20-Euro-Schein. Ob ich den nicht vermisst hätte? Nein. Ich sagte wieder: „Den kannst Du behalten. Du hast ihn gefunden.“
Du wolltest nicht, ließt Dich dann aber doch überreden, ihn zu nehmen.
Für mich war es eine Antwort auf meine Frage vorher. Ich wollte Dein Geschenk annehmen und Dir für Deine Arbeit nichts geben. Du hättest das gefundene Geld einfach behalten können. Ich hätte nichts gemerkt. Auch mein Mann, den ich hinterher danach fragte, hatte den Schein nicht vermisst. Du aber warst ehrlich und wolltest ihn mir geben. Für mich war es eine Antwort Gottes. Ein Wunder!
Du hast Dich über die 20 Euro so gefreut, dass Du am nächsten Tag noch einmal vorbeikamst und mir einen Kuchen schenktest. Den nahm ich dann mit auf unsere Fahrt, um den anderen, die Dich zumeist ja auch kannten von diesem Wunder zu erzählen, von Deiner Ehrlichkeit, wo Du doch das Geld so sehr brauchtest, und dass Du trotzdem davon wieder etwas abgegeben hattest durch das Geschenk des Kuchens. In der Schlussrunde wollte ich ihn dann mit den anderen teilen als einen Wunsch für uns alle. Ich habe es nicht getan. Nach drei sehr interessanten und intensiven Tagen, brach die Eifersucht aus. Der eine Teil der Gruppe hatte sich nicht in seiner Arbeit gewürdigt gefunden. Wie man sie noch verbessern und von anderen lernen könnte, lag wohl nicht im Interesse der Tonangebenden. Ich war so sauer, dass ich meine schöne Geschichte für mich behielt. Jetzt aber, wo ich von den Wundern in meinem Leben nachdenke und sie erzählen möchte, gehört sie wie auch Du einfach dazu.
Auch an meinen Besuch in Deiner Wohnung muss ich denken, als ich Dir den gespendeten Staubsauger brachte. Du zeigtest mir den Babylonischen Talmud, den Du Dir gerade gekauft hattest, Du der Muslim. Ich sah mich / uns wie von außen: ich die Pastorin, Du der Muslim und in der Mitte der Talmud der Juden. Davon habe ich dann gleich erzählt. Es war für mich ein Wunder, auch wenn Du es arrangiert hattest. Dass Du Dich für den Talmud interessierst, hätte ich nicht erwartet. Doch wegen unserer letzten Begegnung, mache ich mir Sorgen um Dich und bete für Dich.
Himmlischer Vater, ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Sprich Du so zu ihm, dass er Dich erkennt und Deine schützende Hand spürt. Bewahre ihn davor, dass sein Interesse an religiösen Fragen eine Masche wird, durch die er andere Menschen für sich einnehmen kann. Hilf ihm, zu seiner Ehrlichkeit zurückzufinden, die ich so an ihm bewundert habe.