Das Telefonat
Lieber N,
wenn ich wie jetzt gerade über Wunder nachdenke, die ich erlebte, so war es das Telefonat mit dem ich Deine Eltern über Deinen Tod informierte. Am liebsten würde ich ein Buch über das, was wir mit Dir und den anderen Jungs erlebten, schreiben, aber vorerst nur den Anfang und das Ende.
Als Du im Mai 1996 ins Gemeindezentrum kamst und um Unterstützung batest, hatte ich gerade keine Zeit, weil das erste Gespräch mit meiner neuen Kollegin anstand. Ich habe Dich abgefertigt, wortwörtlich „zwischen Tür und Angel“. So sehe ich Dich immer noch vor mir. Ich dachte: „So muss Jesus ausgesehen haben. Etwas kleiner als ich selbst, schwarze Haare, dunkle fröhliche Augen“ und mittellos wie Du, darauf angewiesen, was andere ihm gaben. Ich verabredete, Dich zu besuchen und als ich es beim zweiten Anlauf auch wirklich schaffte, die Wohnung Deines Freundes zu finden, habt Ihr beide Euch so gefreut und mich so herzlich empfangen, wie ich es noch nie erlebt hatte.
Seit diesem ersten Kennenlernen hast Du öfter bei uns vorbei geguckt. Es gelang uns, Dir eine schöne Wohnung bei uns in Marzahn zu vermitteln, in die Du auch D, Deinen Freund aufnahmst, für den wir eine Anstellung als Hilfshausmeister bei uns erreichen konnten.
Es war in den Herbstferien 2002, als ich mit unserem Jüngsten zu Verwandten verreiste. Als ich am Sonnabend Abend zurück kam, fand ich auf dem AB die Nachricht vor, dass Du im Krankenhaus auf der Intensivstation liegst und mich sprechen möchtest. So hatte ich mir den Besuch für den Sonntag Nachmittag vorgenommen. Doch um Mittag rief D an, es ginge Dir wieder besser und ein Besuch sei nicht nötig, worüber ich natürlich sehr erfreut war.
Am Montag um 8 Uhr begannen wir die Woche wie immer mit dem gemeinsamen Frühstück im Achteckraum des Gemeindezentrums. D hatte es vorbereitet. Ich erzählte vermutlich gerade von meiner Reise, da wurde ich ins Büro gerufen. Ein Arzt vom Krankenhaus war am Telefon. Du hattest mich ja immer als Notfalladresse angegeben. Er sagte mir, dass Du über Nacht verstorben seist. Sie könnten es sich auch nicht erklären, aber es sei so passiert. Er fragte mich nach Angehörigen. Ich wusste keine Kontaktdaten, versprach aber mich zu erkundigen.
Für D war es der größte Schock. Er wohnte ja in Deiner Wohnung und hatte alle seine Sachen da. Streng genommen hätte er die Wohnung jetzt gar nicht mehr betreten dürfen.
Du hattest mir und Deinen Freunden immer von Deiner Mutter erzählt, dass sie verstorben sei und in Falkensee auf dem Friedhof liege, wo Du auch hinfuhrst, um ihr Grab zu besuchen. Mit Deinem Vater hattest Du Deine Probleme. Er war nach der Rückgabe der Häuser an Besitzer aus dem Western aus G in ein Dorf in der Nähe von Rathenow gezogen. Das wusste ich, aber nichts Genaues. Ich hatte immer wieder versucht, Dich zu bewegen, mit Deinem Vater Kontakt aufzunehmen und Dich zu versöhnen. Auch zu Deinen beiden Brüdern hattest Du keinen Kontakt und auch von ihnen wusste ich nichts.
Da Deine Mutter so jung verstorben war, nahm ich an, dass sie möglicherweise wie Du Alkoholikerin war und Du dass Problem von ihr geerbt hattest. Ich habe Dich aber nie näher nach ihr gefragt, weil ich Deinen Schmerz spürte. Deinen Vater hast Du als sehr streng geschildert. Von Dir selbst hast Du erzählt, dass Du ein sehr guter Schüler warst. Das habe ich Dir nicht geglaubt, das heißt, nicht geglaubt, bis ich Dein Gedicht las, dass Du im Gefängnis geschrieben und mir geschicktest:
Ich habe Dir geglaubt, dass Du unschuldig warst und habe mich für ein Wiederaufnahmeverfahren eingesetzt, dann ein Begnadigungsschreiben für Dich abgeschickt. Eine ganze Gruppe von Leuten aus der Gemeinde waren wir, die sich für Dich eingesetzt haben.
Und nun warst Du also tot. Du hattest schon etliche Male auf der Intensivstation gelegen. Dreimal habe ich Dich im Krankenhaus besucht, soweit ich mich erinnern kann. Was hast Du für Schmerzen wegen Deiner Bauchspeicheldrüse ausgehalten, aber doch mit dem Alkohol nach dem Entzug gleich immer wieder angefangen. So sehe ich Dich noch, wie Du mich das letzte Mal in meinem Arbeitszimmer besucht hast. Mit Krücken konntest Du nur mühsam gehen und bist wütend los, weil ich Dir Deine Geschichte nicht geglaubt und Dir keine Unterstützung gegeben habe. Ja, so bleibst Du mir in Erinnerung, so wütend, polternd, weg humpelnd – so gegensätzlich im Vergleich zu unserer ersten Begegnung - diese unsere letzte!
Nach der Todesnachricht war mein erster Gedanke: Was wird nun aus N und der schönen Wohnung. Dein Vater war der Erbe. N. wusste seinen Vornamen. So rief ich bei der Auskunft an und fragte nach ihm, als jemand, der in der Nähe von Rathenow wohnt. Der Mann bei der Auskunft fand ihn und fragte, ob er mich gleich verbinden solle. Ich bat darum.
Am Telefon meldete sich eine mitteilsame Frau mit einer sehr freundlichen, liebevollen Stimme. Ich war irritiert und fragte nach. Ja, sie hätten drei Söhne, aber zu keinem von ihnen mehr Kontakt. Ich fragte sie nach dem Deinem Geburtsdatum. Das wusste sie. Es war kein Zweifel. Es war Deine Mutter. So sagte ich ihr, dass wir gerade vom Krankenhaus einen Anruf hatten, dass Du heute Nacht verstorben seist. Da hörte ich im Hintergrund eine sehr scharfe, raue Männerstimme. „Was ist das? Lass mich mal ran.“
Deine Mutter gab Deinem Vater das Telefon und ich erzählte ihm nun von Deinem Kontakt zu uns und wollte auch von Deinen Problemen erzählen. Er aber unterbrach mich und wollte nur die Adresse vom Krankenhaus wissen, mehr nicht. „Wir kümmern uns,“ sagte er. Ich bat ihn darum, den Beerdigungstermin zu erfahren und gab ihm unsere Telefonnummer, spürte aber schon, dass ihm das nicht wichtig war. Dann fragte er noch, woher ich seine Telefonnummer hatte. Ich erzählte den Hergang. Er darauf. „Aber die ist doch gesperrt.“
Nun, wir warteten auf eine Nachricht wegen Deiner Beerdigung. Da ich direkt verbunden worden war, hatte ich die Telefonnummer Deiner Eltern nicht, würde sie wohl auch kaum ein zweites Mal bekommen. Das erste Mal war also ein Wunder. Das zweite Wunder war, dass Deine Mutter lebte und offensichtlich gesund und munter war, nach ihrer Stimme zu urteilen eine sehr liebe Frau, die sich aber gegenüber ihrem despotischen Ehemann nicht durchsetzen konnte und tat, was er wollte.
Da keine Nachricht kam, suchte ich nach dem Kollegen, der für das Dorf zuständig war, und fragte, ob er Deine Beerdigung zu halten hatte. Er wusste davon nichts, hatte aber gerade Besuch von einer Ältesten, die wiederum Deine Mutter kannte. Sie war ihre Nachbarin und versprach sich zu erkundigen. So bekam ich mitgeteilt, wann Deine Beerdigung sein würde, aber erfuhr gleichzeitig die Botschaft Deines Vaters, der uns Schläge androhte, wenn wir kommen würden.
So haben wir dann an diesem Tag im Kirchraum eine Andacht für Dich gehalten und das Interview vorgespielt, das ich mal mit Dir gemacht habe. Seitdem hatte ich den Wunsch, in Richtung Rathenow fahren, um Dein Grab zu besuchen und vielleicht Deine Eltern noch persönlich kennenzulernen und von Dir zu erzählen.
Als ich mich 2021 endlich auf den Weg machte, lag Dein Vater auch schon auf dem Friedhof und wo Deine Mutter beerdigt wurde, wusste man nicht. In Eurem Haus wohnten andere Leute. Aber Dich habe ich gefunden, Deinen Grabstein!
ch habe nicht alle Geschichten aus Deinem Leben geglaubt, vor allem nicht, dass Du Vater von drei Kindern warst. Das konnte zeitlich ja auch gar nicht hinkommen. Als ich Dir das vorrechnete, war das für Dich kein Argument dagegen. Du warst so glücklich über Deine Freundin mit ihren drei Kindern, dass Du für sie der Papa warst und sie für Dich Deine Kinder. Ich hatte den Eindruck, dass damit auch Dein Status unter den jungen Männern stieg. Dass Du keinen Kontakt mehr zu „Deinen“ Kindern hattest, schadete dem nicht. Auch all Deine Freunde haben es geglaubt, ebenso wie den Tod Deiner Mutter.
Für mich war das der Beweis, dass die Wahrheit früher oder später herauskommt. Wie sie ans Licht kam, war für mich ein Wunder. Für Deine Mutter wird diese Wahrheit sehr schmerzlich sein, dass Du sie für tot erklärt hattest. Ich vermute, dass sie für Dich tot war, weil sie, die Du doch liebtest und achtetest, statt zu ihren Kindern zu ihrem Mann gehalten hatte. So hat sich nachträglich für mich so manches erklärt, vor allem Deine Flucht in den Alkohol, ins Verdrängen, ins Vergessen.
Jesus, Du hast gesagt, wer einen dieser meiner geringsten Brüder aufnimmt, der hat mich aufgenommen. Ja, ich habe Dich in ihm gesehen, obwohl doch sehr schnell die Ursache seines Problems deutlich wurde: der Alkohol. Aber auch die Arbeitslosigkeit nach dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft und des ganzen DDR-Systems, die ganze Altersgruppen chancenlos machte, mag ihren Teil dazu beigetragen haben.
Herr, ich danke Dir für die Begegnungen in diesen Jahren mit diesen jungen Männern, um die wir uns als Gemeinde damals bemühten. Wir haben sie nicht in unserem Sinne sozialisieren können. Die Verbindung zu ihnen ist lange abgebrochen und doch bleibt sie im Herzen bestehen. Bei all dem Aufregenden, was wir erlebten und auch nicht verhindern konnten, war doch die Stimme der Mutter am Telefon das größte Wunder. Wie werden uns erst die Augen aufgehen, wenn wir alles wissen! Wie werden wir staunen und uns wundern.
Durch Deine Worte, die wir ernst nahmen, hast Du uns reich an Erfahrungen gemacht. Ich habe Lebenswirklichkeiten kennengelernt, zu denen ich bis dahin keinen Zugang hatte, und Menschen, die sich wie ich engagierten, ins Herz schließen dürfen. Auch das hat mich reich gemacht und so manche erfreuliche Folge noch nach Jahren gehabt. Ich danke Dir.