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Die Weihnachtsgeschichte

 

Liebes Kind,

Ende 1989 sagte jemand, es war wohl ein Journalist oder Politiker: „Das Wort veraltet einem im Munde.“ Ja, so empfand ich es auch. Ich staunte nur so, in welch kurzer Zeit etliche an unserer Sektion Theologie die Wende vollzogen. Was gestern noch falsch und schlecht war, war heute auf einmal gut und erstrebenswert und Fortschritt. Ich selbst hatte seit September 1987 an meiner Dissertation B gearbeitet. Wie schon in meiner ersten Arbeit, wollte ich untersuchen, ob die marxistischen Vorwürfe gegen das Christentum zu belegen waren.

Doch auf einmal löste sich der mir bekannte Marxismus-Leninismus in Dunst auf. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, von der es hieß, dass sie gesagt hätte, Freiheit sei die der Andersdenkenden, schienen nun auf dem besten Weg zu sein, die neuen Götter zu werden. Für die meisten aber war es die Gesellschaft der Bundesrepublik. Das war modern, erfolgreich. Max, Engels, Lenin waren „out“.

Es muss zwischen Weihnachten und Neujahr oder Anfang Januar 1990 gewesen sein. Du, damals fünfeinhalb Jahre alt, warst zu uns ins Ehebett gekommen und lagst zwischen uns. Der Papa schlief fest. Ich aber konnte nicht schlafen. Ich dachte an meine insgesamt schon zehnjährige Arbeit an meinem Thema und an die dreieinhalb Jahre nun schon an der jetzigen Disseration. Wer würde mir sie noch abnehmen, wenn sie fertig wäre? Wer würde sich noch für die Fragestellung interessieren? Ja wer würde es noch wagen, sich mit einem solchen Thema zu beschäftigen?

Mir kamen die Tränen. Du, neben mir, spürtest, dass ich weinte, schobst Dein Ärmchen unter meinen Hals, nahmst mich in die Arme und flüstertest mir die Weihnachtsgeschichte ins Ohr. Du erzähltest sie ganz, von der Ankündigung der Geburt an Maria durch den Engel Gabriel bis zur Flucht nach Ägypten. Ich dachte an die Worte „Durch den Mund der Kinder und Unmündigen hast du dir Lob zugerichtet.“ und war getröstet und bereit, für das, was kommen würde.

Ja, in der Weihnachtszeit, hatte ich Euch Kindern die Weihnachtsgeschichte erzählt, aber nie die ganze auf einmal. Unsere Kinderbibeln und biblischen Bilderbücher enthielten nicht die vollständige Geschichte, nicht die Version des Matthäus mit dem Kindermord zu Bethlehem und der Flucht nach Ägypten. Als ich Dich ein paar Tage später bat, mir die Geschichte noch einmal zu erzählen, bekamst Du sie nicht zusammen. Ich war sicher, Gott selbst hatte mich durch mein Kind getröstet und an diesen 3. Vers des Psalms 8 erinnert, auf den Jesusim Tempel hinweist, um das Lob Gottes durch Kinder zu erklären: Wenn wir Erwachsenen schweigen, feige sind, am Wort Gottes zweifeln, weil es zu sehr dem Zeitgeist widerspricht, dann werden die Kinder und Unmündigen es weiter sagen zu Gottes Lob. (Matthäus 21,16 ).


Ja, HERR, das habe ich erlebt. Ich danke Dir für diese Nacht, diesen Trost, für mein Kind, das mich in den Arm nahm. Meine Sorgen bestätigten sich nicht. Meine Arbeit wurde angenommen. Ich bekam noch einen westdeutschen Professor als Gutachter und konnte sie am 27. Februar 1991 verteidigen. Wissenschaftliche Beachtung hat sie bisher nicht gefunden, obwohl Marx durchaus wieder im Gespräch ist, vor allem seit seinem 200. Geburtstag 2018.

Und doch ist der Abscheu gegen Christen und Kirche bis heute hier bei uns im Osten spürbar . Das, was jene Propaganda behauptete, ist verflogen, aber die Stimmung, die sie erzeugte, ist geblieben, diese Überheblichkeit, dass nur Dumme und Unehrliche in die Kirche gehen, nur Leute, die es nötig hätten oder aus Tradition daran gewöhnt wären.

Herr, wie viele Jahre habe ich mich bemüht, dass unser Gemeindezentrum offen und einladend für alle ringsum wäre, dass deine gute Botschaft auch die Menschen draußen erreichen möge, sie neugierig mache, auf das, was im Haus geschieht und erzählt wird. Herr, schenke uns doch, dass dies geschieht.