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Der Zettel in der Blumenvase



Lieber Herr H,

ich sehe Sie noch vor mir, wie Sie uns ab und zu im Gemeindebüro besuchten, ein gut aussehender stattlicher alter Herr, der sofort die Herzen für sich einnahm, so liebenswürdig und galant, wie Sie waren. Wir erfuhren, dass Sie keine Angehörigen hatten und also ganz auf sich gestellt waren und uns als Kirchengemeinde gern als Erben einsetzen würden. Einmal habe ich Sie besucht. Ich erinnere mich, wie beeindruckt ich war, dass Sie Ihren Haushalt so gut allein in Ordnung hielten und sogar Ihre Kleidung selber bügelten. Sie führten mir Ihren Schrank vor, wie ordentlich die Wäsche darin lag.

Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit bis zu meinem nächsten Besuch verging, als Sie mich rufen ließen, weil es Ihnen nicht gut ging. Ich traf die Tochter eines ihrer Kollegen an, die sich offensichtlich rührend um sie kümmerte. Ihr eigener Vater war schon verstorben und nun schienen Sie Ihr Ersatzvater zu sein. Sie sei täglich hier und sorge für Sie, eben wie für den eigenen Vater.

Dann, wohl wenig später, wurde ich durch die Pflegestation an ihr Bett gerufen. Sie wollten nun das Erbe klären, dass es an unsere Kirchengemeinde fiele. Aber ich sah gleich, dass das nicht mehr zu schaffen war. Sie waren dem Sterben schon nah und so schnell war kein Notar für ein Testament zu bekommen. Ich saß an Ihrem Bett. Sie zeigten mir einen Sparkassenauszug. Die Summe, die da stand, hätte nicht mal für die Beerdigung gereicht. Ich fragte Sie nach Verwandten und Kindern. Sie verneinten.

Am nächsten Abend ging es Ihnen noch schlechter. Der Pfleger blieb extra länger, aber irgendwann musste er doch weiter. Ich rief die Tochter Ihres Kollegen an, um ihr zu sagen, wie es um Sie steht. Sie sei unterwegs und könne nicht kommen, müsse sich um die eigene Familie kümmern, sagte sie kurz angebunden. Ja, Sie waren offensichtlich dem Sterben sehr nah. Auf ihren Wunsch hin betete ich für Sie, segnete Sie. Wir beteten gemeinsam das Vaterunser. Dann musste auch ich langsam nach Hause.

Am nächsten Tag erfuhr ich, dass der Pflegedienst Sie ins Krankenhaus hatte einweisen lassen. Ich fuhr hin. Sie waren nicht mehr ansprechbar. Offenbar wirkte das Morphium. Ich saß an Ihrem Bett, sang Lieder aus dem Gesangbuch, die vom ewigen Leben handeln, betete für Sie.

Am nächsten Tag kam die Todesnachricht. Die Leiterin der Pflegestation fragte mich, ob ich etwas über Angehörige wüsste. Wir verabredeten, gemeinsam noch mal in ihrer Wohnung nachzusehen, ob wir nicht irgendetwas fänden. Wir suchten Ihre ganze Wohnung durch. Die Kleidung lag super ordentlich in ihren Fächern, aber nicht ein Schriftstück war zu finden, keine einzige Akte mit Papieren. Selbst der Kontoauszug war verschwunden, den Sie mir doch vor drei Tagen noch gezeigt hatten. Ich erzählte, dass Sie uns als Kirchengemeinde als Erbe hatten einsetzten wollen. Ach, dass kannte die Leiterin. Auch der Pflegestation hätten sie das gesagt, und nicht nur ihnen, auch vielen anderen noch.

Schließlich fand ich in einer Blumenvase einen kleinen Zettel mit einem Vornamen und ihrem Nachnamen. Zu Hause gab ich dies in Google ein und fand mehrere Leute mit diesem Namen. Ich rief die erste Adresse an und hatte Ihre Tochter am Telefon. - Für mich ein Wunder! Gleich der erste Anruf war erfolgreich. Ich erzählte ihr, dass und wie Sie gestorben waren, auch dass Sie mir gesagt hatten, dass Sie keine Verwandten hätten. Ihre Stimme klang bitter: "Wir waren doch vor sechs Wochen noch bei ihm."

Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört, auch nicht wie und von wem Sie beerdigt wurden. Aber gedacht habe ich mir meinen Teil. Die „nette, fürsorgliche“ Tochter ihres Kollegen hatte sie wohl von allem rechtzeitig erleichtert, was zu erben lohnte. Sie selbst aber haben offenbar mit dem Reden von einem möglichen Erbe versucht, sich interessant zu machen und Kontakte aufzubauen. Die eigenen Kinder aber haben Sie verleugnet. Die Geschichte mit dem Erbe hätte mit ihrer Erwähnung nicht funktioniert. Für mich war dieses Erlebnis die Erfahrung, dass Menschen auch im Sterben nicht unbedingt die Wahrheit sagen. Wie schmerzlich muss dies für Ihre Kinder gewesen sein, vom Vater selbst im Angesicht des Todes noch verleugnet zu werden! Sie hatten sich ja durchaus um Sie gekümmert, hatten aber sicher auch mit Befremden gesehen, wie Sie die junge Frau, die Tochter ihres Kollegen als Vertrauensperson behandelten und sicher Bauchschmerzen dabei bekommen, sicher auch mal ein Wort zu Ihnen über diese Frau gesagt. Ein Kind spürt doch, wenn etwas nicht in Ordnung ist mit einer überfürsorglichen fremden Person.

Wie mag es Ihnen nun weiter ergangen sein – im Angesicht der ganzen Wahrheit?

 


 

Himmlischer Vater, ich bitte Dich für die Tochter und den Sohn von Herrn H, die mit dieser schweren Last nun weiterleben müssen, für seine Enkelkinder und die Urenkel, die er sicher irgendwann einmal haben wird. Schenke Ihnen, dass Sie über all das reden können und für sich klären konnten, so dass sie ihren Frieden fanden. Herr, was es auch immer war, dass er sich zu Dir in Form unserer Gemeinde und Kirche geflüchtet hat, unsere Gottesdienste und unser Haus besucht hat und mich als Pastorin zu sich an sein Sterbebett rufen ließ. Herr lass daraus für seine Angehörigen nicht Abscheu gegen uns und Dein Wort entstehen. Sprich mit Ihnen, lass Sie nicht allein in ihrem Schmerz, ihrer Bitterkeit über diesen Vater, der die eigenen Kinder noch auf dem Sterbebett verleugnet hat.

Herr, erbarme Dich auch jener jungen Frau, die es verstand jenen alten Herrn so für sich einzunehmen und so auszunehmen, ihn den Seinen zu entfremden und die ihn dann in der entscheidenden Situation allein ließ. Sie hatte ja inzwischen wohl alles, was sie wollte.

Herr segne alle in der Gesellschaft, die dafür da sind, die Schwachen zu schützen und für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen und solchen Menschen das Handwerk zu legen. Lass Dein Wort in der Heiligen Schrift laut erklingen, dass uns ankündigt, dass alles, was im Verborgenen geschieht, ans Licht kommen wird, und dass Du ein Gott bist, der Gerechtigkeit garantiert und doch barmherzig und gnädig ist und von großer Güte. Ja, Herr, das warst Du auch für Herrn H, um den sich der Pfleger so rührend sorgte und für den auch ich Zeit hatte, all jene Stunden an seinem Bett zu sitzen, so dass er nicht allein war. Habe Dank dafür, o Herr!